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Der innere Blick und die gedehnte Zeit

Anmerkungen zum Projekt VISIONS NYC von Bärbel Möllmann

Von Regine Rapp

Die Dame sitzt aufrecht und hält ihre Augen geschlossen (vgl. Abb. VISIONS NYC – afterthoughts – Estell Ellis).
Im breiten Panoramaformat der Fotografie ist sie in die linke Bildhälfte gerückt, während der umliegende Raum in ein tiefes Grüngrau versinkt. Nur ihre rechte Gesichtshälfte ist stark beleuchtet; alle Details der Person sind verschwommen. Dadurch wirkt die Portraitierte entrückt und in sich gekehrt.

Bei der dargestellten Person handelt es sich um die New Yorkerin Estelle Ellis, die ehemalige Chefredakteurin der Modezeitschrift »Glamor«, die in ihrer Privatwohnung in Manhattan sitzt. Das Fotoportrait ist nur eines von mehr als achtzig Aufnahmen des Projekts VISIONS NYC der Berliner Künstlerin Bärbel Möllmann, das zwischen Mai und Juli 2001 in New York City entstand. Das Konzept sah vor, unterschiedliche Menschen in New York zu portraitieren und sie anschließend ihre persönlichen Visionen und Zukunftsplänen aufzunehmen. Eine Besonderheit stellt dabei die außergewöhnliche fotografische Technik dar: Möllmann hat durchgehend mit der Camera Obscura fotografiert. Dabei legte die Künstlerin großen Wert darauf, die Befragten an den von ihnen gewählten, individuellen Orten und Räumen zu fotografieren. Im Moment der visuellen Produktion – im Moment der fotografischen Aufnahme also – sollten sich die Protagonisten mit geschlossenen Augen auf ihre Wünsche konzentrieren.

Die unterschiedlichen Gesprächspartner verweisen bereits auf die vielfältigen Lebensentwürfe in New York City: Da ist beispielsweise die Galeristin Halley Harrisburg mit weit gesteckten Berufszielen; oder Jörn Luckfiehl, der deutsche Jurastudent, der ein Praktikant absolvierte und riet, dass man von seinem Traum dann ablassen sollte, wenn man spürt, man könne ihn nicht realisieren; oder die Konzeptkünstlerin Lisa Levy, die über ihr sogenanntes will-project berichtet, bei welchem sie alle ihre Besitztümer anderen überlässt. Ihre Formulierung ihres Lebensstils, »I try to blurr the lines between my life and my work«, führt uns schließlich zurück just an jene unscharfen Ränder der Portraitierten – und damit zur Camera Obscura.
Die Technik der Lochkamera ist simpel und das Medium direkt: Eine kleine schwarze Schachtel mit einem Loch auf der Forderseite projiziert ohne Linse den Außenraum auf das im Inneren eingelegte Mittelformat-Negativ. Mit Belichtungszeiten bis zu drei Minuten unterläuft Möllmann bewusst effektive, schnelle Aufnahmezeiten. Des Weiteren spielen die Unschärfe und das gebrochene Licht bei den Aufnahmen mit Camera Obscura eine besondere Rolle: Die Unschärfe verleiht den Portraitierten Distanz und entfernt sie von der Realität. Lichtprismen entstehen darüber hinaus dann, wenn sich das Licht am Rande des Körpers oder der Objekte bricht. Möllmann hat diese Effekte alle bewusst gesetzt.

Zu diesem bewusst inszenierten Verzögerungsmoment durch die Lochkamera äußert sich die Künstlerin folgendermaßen: »Man kann sich nicht verstellen. Das ›wahre‹ Gesicht, der eigentliche Charakter der Menschen tritt zum Vorschein, das Innere der Menschen zeigt sich.« *

Es stellt sich ein interessanter Effekt ein: Während der zeitintensiven fotografischen Aufnahme müssen die Portraitierten innehalten; dies kommt einer kontemplativen Pause gleich. Die Technik der Lochkamera läuft nicht nur der Schnappschuss-Ästhetik bewusst entgegen, sie setzt schließlich auf Zeit und unterläuft damit sämtliche gegenwärtige Errungenschaften zeiteffektiver Fototechnologien.
Dieser inszenierte innere Blick mittels einer einfachen alten Technik der Lochkamera evoziert einen konstruktiven Widerspruch mit dem gewählten Stadtraum: Dem schnellen Tempo der Stadt New York setzt sich diese auf Zeit setzende Technik bewusst entgegen. Über ausgewählte Gesichter und den persönlichen Text, den autobiographischen Sentenzen, vermittelt Möllmann ein ungewohnt intimes Stadtportrait von New York, das sich von der ermüdenden, weil ständig neu inszenierten Skyline-Ästhetik erfrischend absetzt.

Nachdem die Künstlerin im August 2001 wieder nach Europa zurückgekehrt war, wurde im September desselben Jahres das Attentat auf das World Trade Center verübt – auf dessen Gebäude übrigens die Künstlerin noch ein Monat zuvor Aufnahmen und ein Interview mit einem New Yorker geführt hatte. Dieses schockierende Ereignis, dieser gezielte Angriff auf die Metropole, war schließlich der Auslöser dafür, dass Möllmann ein Jahr später ihr künstlerisches Projekt fortsetzte und fast alle der bereits Portraitierten und Interviewten zum zweiten mal traf, fotografierte und erneut befragte. Mit diesem zweiten Teil erhält das Projekt eine anfangs nicht intendierte Zäsur, die eben jene jüngst geäußerten Visionen und Träume der Wahl-New Yorker zu hinterfragen schien.

Die entstandenen Cityscapes präsentiert Möllmann in zwei Varianten – als audio-visuelle Installation und als Künstlerbuch. In der Ausstellung: Im Ausstellungsraum kann man die Portraits als großformatige C-Prints nebeneinander studieren. Mittels Kopfhörer ist es den Besuchern möglich, die Originalstimmen und ihren Zukunftsvisionen unmittelbar vor dem jeweiligen Bild zu hören. Auf konstruktive Weise werden Schauen und Hören hier inszeniert. Bild und Text verbinden sich zu einem visuell-akustischen Portrait, mittels der digitalen
Perfektion der Sound-Aufnahme rücken die Portraitierten nahe an den Betrachter heran.
Als Buch: Die Portraits der Stadt New York sind als originale C-Prints in einem großformatigen Bildband versammelt. Teilweise erstrecken sich die breitformatigen Aufnahmen über beide Buchseiten hinweg. Beim Blättern erschließt sich die Vielfalt der Portraitierten. Das Fotobuch vermag es, als ein besonderes bibliophiles Format den vielfältigen Lebenskonzepte Raum zu geben. Zusammen mit den transkribierten Interviews vermittelt das Künstlerbuch schließlich ein außergewöhnliches künstlerisches Archiv.

Die Aufnahmen von Bärbel Möllman visualisieren auf poetische Weise die individuelle Introspektion der Befragten. Mithilfe des Einsatzes der Camera Obscura kommt die sich schnell bewegende Metropole New York zu einem poetischen Stillstand.

* Äußerung der Künstlerin während eines Gesprächs mit der Autorin im Juni 2010.